EINBLICKE IN DIE PRAXIS

Das Fenster zum Schulhof

Mit ihrem Platz am Fenster zum Schulhof ist Isabel Schaefer, Leiterin des Familiengrundschulzentrums an der Osningschule in Bielefeld, die erste Anlaufstelle für Eltern. „Wenn Sie es so sehen, bin ich das erste, das man sieht, wenn man zur Schule kommt“, beschreibt sie, als wir das Familiengrundschulzentrum (FGZ) im März 2022 besuchen.

Das Familiengrundschulzentrum Osningschule ist eines von inzwischen mehr als 130 Familiengrundschulzentren in Nordrhein-Westfalen und eines von vieren in Bielefeld, die in der Trägerschaft des Kreisverbandes der Arbeiterwohlfahrt (AWO) sind. Die Familiengrundschulzentren knüpfen an das Konzept der Familienzentren an Kitas an. Die Idee ist, dass sich Grundschulen durch ihre Entwicklung zu einem Familiengrundschulzentrum stärker für Familien öffnen, Eltern vor allem in sozialen Brennpunkten unterstützen und Erziehungs- und Bildungspartnerschaften ausgebaut werden. So sollen die Bildungschancen der Kinder verbessert werden. 2014 ist das erste Familiengrundschulzentrum in Gelsenkirchen entstanden. In einem Modellprojekt mit der Wübben Stiftung wurden fünf weitere Familiengrundschulzentren aufgebaut und verschiedene Ansätze erprobt. Immer mehr Kommunen in NRW haben sich auf den Weg gemacht, seit 2020/2021 unterstützt durch zwei Förderrichtlinien der Landesregierung.

Pandemie: Eltern müssen draußen bleiben

Die Osningschule ist eine dreizügige Grundschule. 300 Kinder und ihre Familien gehen dort normalerweise täglich ein und aus. „Wir sind im Sommer 2021 gestartet, mitten in der Pandemie“, sagt Isabel Schaefer. Eltern dürfen seit Beginn der Pandemie gar nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen das Schulgebäude betreten. „Dieser Fakt steht natürlich im krassen Gegensatz zur Idee der Familiengrundschulzentren,“ sagt Schaefer. Davon lässt sich die Erziehungswissenschaftlerin nicht beirren. Wenn die Eltern nicht ins Gebäude dürfen, kommt sie zu ihnen. Zu ihrem Start hat sie einen Elternbrief verfasst und sich mit einem Stapel Briefe vier Tage lang zu den Bring- und Abholzeiten an jeweils einen der vier Eingänge der Schule gestellt. „Ich habe versucht, mit jedem Elternteil ins Gespräch zu kommen und gleichzeitig zu erfragen, was sie sich wünschen, was ihre Bedarfe sind.“ Dafür hat die Leitung des Familiengrundschulzentrums einen Fragebogen entworfen, der ohne Sprache auskommt – dafür mit Bildern. „In vielen Familien unserer Schule wird Zuhause kein Deutsch gesprochen und es sind auch Analphabetinnen und Analphabeten dabei. Wenn wir also den Anspruch haben, alle Eltern zu erreichen, dürfen wir das nicht aus den Augen lassen“, sagt Schaefer. Nach vier Tagen hatte sie mehr als 60 ausgefüllte Fragebögen. Die am häufigsten angekreuzten Themen waren Ernährung, Erziehung, Sport und ein Sprachkurs.

„Wir stellen keine Erwartungen an die Familien. Wir wollen sie mit niedrigschwelligen Angeboten dort erreichen, wo sie täglich hingehen - in die Schule ihrer Kinder.“

Niedrigschwellige Angebote

Heute, ein halbes Jahr später, findet in Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt KV (AWO) und Gleichstellungsstelle der Stadt Bielefeld jeden Dienstagmittag ein Sprachtreff für zugewanderte Frauen statt. Isabel Schaefer ist sehr froh, dass sie diesen trotz Pandemie anbieten darf. Das Bedürfnis der Eltern sei groß gewesen. Beim Sprachtreff kommen zugewanderte Frauen zusammen, deren Kinder zur Grundschule gehen oder die aus dem Stadtteil kommen. Die Frauen sprechen Türkisch, Kurdisch, Russisch, Bulgarisch. Sie sprechen gar nicht oder kaum Deutsch. Sie wollen es aber unbedingt lernen. „Wir sitzen hier bei Kaffee und Tee und versuchen, uns zu verständigen“, sagt Schaefer. Der Sprachtreff ist kein Sprachkurs mit Aufgabenblättern. Er öffnet die Grundschule für die Frauen, über ihn wird Vertrauen zu den Familien aufgebaut, er baut Hemmschwellen ab. „Es gibt keine Anforderungen. Wir wollen einen sichereren Rahmen schaffen, in dem sich jede wohl fühlt. Die Mütter sollen gerne in die Schule ihrer Kinder kommen“, so Schaefer. Die Frauen sprechen in ihrer Herkunftssprache in ihr Handy, lassen das Gesagte so übersetzen und werden immer mutiger, vorsichtig auf Deutsch ihre Sätze zu formulieren. Sie tauschen sich über Rezepte aus, über Interessen, darüber woher sie kommen. Themen sind aber auch: Was muss ich sagen, wenn ich zum Arzt gehe? Was sage ich beim Bürgertest? Und vieles mehr. Damit die Frauen auch jeden Dienstag kommen, erinnert sie Isabel Schaefer jeden Montag daran, entweder persönlich am Fenster oder telefonisch. „Ich möchte Ihnen zeigen, dass es mir wichtig ist, dass sie kommen.“

Die Lebenslagen der Familien verbessern

Das Familiengrundschulzentrum Osningschule ist eines von sechs Familiengrundschulzentren, die sich seit 2020 in Bielefeld entwickeln. Ziel der Stadt ist es, dass sich die Lebenslagen der Familien verbessern und sich Bildungsbenachteiligungen abbauen. Insbesondere im Grundschulalter ist der Einfluss der Eltern auf den Lernerfolg ihrer Kinder erheblich. „Wir haben bei der Standortauswahl darauf geschaut, in welchen Stadtteilen besonders viele Alleinerziehende oder Familien mit SGB II-Bezug leben“, so Yvonne Becker-Schwier, kommunale Koordination für Familiengrundschulzentren in Bielefeld. Anschließend wurde der Kontakt mit den Schulen aufgenommen. „Das eine sind die Zahlen, das andere die Menschen als Expertinnen und Experten vor Ort.“ Die Osningschule liegt im Stadtteil Sieker. Der Kommunale Lernreport verzeichnet zu dem Stadtteil folgende Zahlen: 75 Prozent der Kinder unter 10 Jahren haben einen Migrationshintergrund. Die bildungsrelevante soziale Belastung wird als eher hoch bezeichnet. Knapp 20 Prozent der Kinder weisen bei den Schuleingangsuntersuchungen Auffälligkeiten auf. Knapp 25 Prozent der Kinder erhalten eine Gymnasialempfehlung. „Wir stellen keine Erwartungen an die Familien. Wir wollen sie mit niedrigschwelligen Angeboten dort erreichen, wo sie täglich hingehen – in die Schule ihrer Kinder“, sagt Becker-Schwier.

Lotse im Stadtteil

Am ersten Sonntag im Februar hat zum ersten Mal der Open Sunday an der Osningschule stattgefunden. Der Open Sunday ist ein offenes, kostenloses Bewegungsangebot für Kinder und findet nun jeden Sonntag bis Ostern statt. „Die Kinder und Eltern lernen dort Trainerinnen und Trainer der Sportvereine kennen, die sie aufmuntern, doch mal im Verein vorbeizuschauen. Die Kinder kommen sonst in den Angeboten der Sportvereine nicht an,“ sagt Yvonne Becker-Schwier. Die Leitung des Familiengrundschulzentrums, Isabel Schaefer, hat im Vorfeld die Werbetrommel gerührt. Sie war in jeder der 12 Klassen und hat den Kindern gesagt, dass sie Sonntag nur Sportzeug, Maske, etwas zu Trinken und die Telefonnummer von Zuhause mitbringen müssen. Der Auflauf am Sonntag war riesig. „Für die Kinder war das nach so vielen Entbehrungen in der Pandemie ein absolutes Highlight und für die Familien eine Entlastung“, so Schaefer. Auch für die Eltern bietet sie ab April ein Bewegungsangebot an: Fit durch Tanzen an der Osningschule.

Sie blickt aus ihrem Fenster auf den Schulhof. Meist ist sie schon um 7:30 Uhr vor Ort. Dann steht ihr Fenster offen und Eltern, die ihre Kinder zu Schule bringen, können kurz oder lang mit ihr sprechen. Bei ihr kommen Fragen zu Angeboten an, aber auch zur Bewältigung des Alltags, zum „Bildung und Teilhabe-Paket“, Fragen zum Impfen und viele mehr. „Auch wenn ich bei manchen Fragen nicht weiter weiß, dann kann ich den Eltern aber zumindest sagen, wo sie sich mit ihrem Anliegen hinwenden können. Ich lotse sie weiter“, sagt Schaefer.

Familiengrundschulzentren funktionieren in der Pandemie

Isabel Schaefer und Yvonne Becker-Schwier sind sich einig: Die größte Herausforderung ist momentan die Pandemie. Es sind nur wenige Angebote möglich und niedrigschwellig sind sie durch die 2G- oder 3G-Regel auch nicht. Trotzdem funktioniert das Konzept der Familiengrundschulzentren. So sieht das auch Schulleiterin Claudia Fischer: „Corona hat die Arbeit mit den Eltern stark eingeschränkt. Wir mussten rigoros die Türen schließen. Das war für uns sehr schwierig. Das Familiengrundschulzentrum ist in dieser Zeit zur wichtigen Schnittstelle geworden – das Fenster zum Schulhof und das Fenster in die Schule.“ Bei den drei Frauen wird deutlich, dass hier ein gemeinsames Verständnis davon herrscht, was ein Familiengrundschulzentrum ist. Isabel Schaefer bestärkt das: „Die Osningschule hat nicht ein Familiengrundschulzentrum, sondern sie ist ein Familiengrundschulzentrum.“ Alle drei, die Leitung des Familiengrundschulzentrums, die kommunale Koordination und Schulleitung stimmen überein: Wenn das Konzept der Familiengrundschulzentren unter den Bedingungen der Pandemie funktioniert, dann wird es erst recht funktionieren, wenn die Pandemie überstanden ist. Und für diese Zeit haben Stadt und Schule schon Pläne. Yvonne Becker-Schwier plant ein großes Sportfest: „Es ist alles schon vorbereitet. Wir brauchen nur noch ein Datum.“ Isabel Schaefer träumt vom Herzstück des Familiengrundschulzentrums – einem Eltern-Café. Solange es das nicht gibt, steht sie früh morgens an ihrem Fenster zum Schulhof.

Quelle: Bildung in Bielefeld. Kommunaler Lernreport 2018.

WEITERE INFORMATIONEN

Reportage: Marisa Klasen, Wübben Stiftung Bildung
Fotos: Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
Kommune: Bielefeld