EINBLICKE IN DIE PRAXIS

Datengetriebene Ansätze in der Entwicklung von Familiengrundschulzentren in Bielefeld

Erfahren Sie, wie Bielefeld durch datengestützte Entscheidungen und sozialräumliches Monitoring die Entwicklung von Familiengrundschulzentren (FGZ) vorantreibt. Im Interview geben die Kommunale Koordination der FGZ, Yvonne Becker-Schwier, und der stellvertretende Amtsleiter des Büros für Sozialplanung, Jakob Bergen, Einblicke in ihre strategische Nutzung von Daten, die Auswahl relevanter Kennzahlen und wertvolle Empfehlungen für Kommunen, die ähnliche Wege einschlagen möchten.

Welche Daten zum Stand der FGZ auf kommunaler und schulischer Ebene werden in Bielefeld erhoben und genutzt?

Yvonne Becker-Schwier: Daten, die wir an den Schul-Standorten erfassen, beinhalten vor allem Informationen zu Bedarfen. Es gibt mindestens einmal im Jahr, tendenziell eher zweimal, Bedarfsabfragen. Zudem erhebt die Schule Daten, wie zum Beispiel bei Neuanmeldungen, aus denen wir Rückschlüsse ziehen können. Hier interessiert uns, wie viele neue Kinder und Familien an den Standort kommen oder wie viele wegziehen. Migrationshintergründe sind wichtige Daten, da unsere Standorte einen hohen Anteil an Familien mit Migrationshintergründen haben. Darüber hinaus kooperieren wir mit verschiedenen Ämtern und verwenden dort erfasste Daten für unsere Planungen. Dazu gehören u. a. das Gesundheitsamt mit den Erhebungen aus den Schuleingangsuntersuchungen, das Bildungsbüro mit dem kommunalen Lernreport und das Büro für Sozialplanung mit dem Lebenslagenbericht der Stadt Bielefeld. Diese Datenquellen sind entscheidend für unsere strategische Ausrichtung und die Identifizierung potenzieller neuer Standorte. Beispielsweise haben uns die Daten aus den Schuleingangsuntersuchungen gezeigt, dass es Stadtteile gibt, in denen die Bewegungsförderung von Kindern ein Schwerpunkt sein sollte.

Jakob Bergen: Im Lebenslagenbericht, der alle zwei Jahre erscheint, haben wir zwei zentrale Kennzahlen, von denen vor allem die Kinderarmutsquote für die Familiengrundschulzentren relevant ist. Diese bezieht sich auf die SGB II-Quote, also Kinder unter 15 Jahren in SGB II-Bedarfsgemeinschaften, und wir können diese Daten auf kleinräumiger Ebene nach statistischen Bezirken ausweisen. Diese Information war auch ein wesentlicher Faktor bei der Auswahl der FGZ-Standorte. Wir haben gezielt dort hingeschaut, wo die höheren Quoten vorhanden sind. Die Standorte der FGZ sind also keineswegs zufällig, sondern wurden bewusst ausgewählt. Die Kinderarmutsquote spielt dabei eine zentrale Rolle und im Lebenslagenbericht erstellen wir keinen Index, sondern verwenden diese eine einzelne Kennzahl, die eindeutig ist.

Becker-Schwier: Auch das Thema der Alleinerziehenden ist im Lebenslagenbericht hinterlegt, oder?

Bergen: Wir haben auch die SGB II-Quote bei Alleinerziehenden untersucht. Jeder neunte Haushalt in Bielefeld ist eine SGB II-Bedarfsgemeinschaft, aber bei Alleinerziehenden ist es jeder zweite Haushalt.

In einigen statistischen Bezirken liegt die Quote sogar bei bis zu 90 Prozent. Diese Erkenntnisse nutzen wir, um Maßnahmen zu formulieren, bei denen die FGZ eine wichtige Rolle spielen. Wir entwickeln weitere sozial maßgeschneiderte Maßnahmen und Projekte. So können wir gezielt auf die Zielgruppen und Stadtteile eingehen.

Becker-Schwier: Irgendwann geht es auch immer um die Frage der Wirkungen. Im Lebenslagenbericht können wir stadtteilbezogen, quartiersbezogen sehen, ob es Veränderungen in diesen Zahlen gibt. Und wir könnten vor Ort konkret nachfragen und explizite Zahlen erheben, um die Wirkung messbar zu machen. Wir würden so einen roten Faden durch die ganzheitlichen Daten legen und diese dann auf Stadtteilebene herunterbrechen können.

Sie haben gerade schon erwähnt, dass Sie auch interdisziplinär zusammenarbeiten. Gibt es noch weitere Ämter, neben dem Gesundheitsamt und dem Bildungsbüro, mit denen Sie in Sachen Daten kooperieren?

Bergen: Die abgeschottete Statistikstelle ist unser zentraler Ansprechpartner für Daten. In Bielefeld erhalten wir über diese Stelle kleinräumige, sozialräumliche Daten von der Bundesagentur für Arbeit. Diese abgeschottete Statistikstelle ist die Voraussetzung dafür, dass uns die Bundesagentur für Arbeit diese Daten zur Verfügung stellt. Die Zusammenarbeit ist effektiv und wir nutzen diese Daten für den Lebenslagenbericht, die Pflegebedarfsplanung und das Konzept und die Maßnahmen im Rahmen des „Familienfreundlichen Bielefelds“. Die prozessgenerierten Daten aus dem Dezernat für Soziales und Integration, insbesondere vom Sozialamt und Jugendamt, werden ebenfalls teilweise genutzt. Jedoch beziehen wir hauptsächlich Daten zu Sozialhilfebezug, Demografie, Arbeitslosigkeit und Haushaltskonstellation von der Statistikstelle. Der Austausch und die Zusammenarbeit sind wichtig. Statistik ist keine Nebensache. Es erfordert spezifisches Know-how und den Austausch mit Expertinnen und Experten. Es ist entscheidend, Kennzahlen nicht zu kleinräumig zu fassen, um sie sinnvoll auswerten zu können.

Becker-Schwier: Ich kann ergänzen, dass wir derzeit im Austausch mit dem Gesundheitsamt Daten zu Präventionsangeboten von Krankenkassen an Schulen auswerten. Die gesetzlichen Krankenkassen bieten solche Angebote an, die jedoch nicht in Anspruch genommen werden. Wir analysieren diese aktuellen Daten, um zu verstehen, warum Schulen Bedarfe anmelden, aber die vorhandenen Angebote nicht genutzt werden. Zudem haben wir Daten zur Hilfe zur Erziehung (HZE) an manchen Standorten an den offenen Ganztag (OGS) angegliedert. Diese Unterstützung findet dadurch in der Schule statt und wir nutzen die Daten, um zu verstehen, wie viele Familien welche Hilfen über welchen Zeitraum erhalten.

Sie haben bereits erwähnt, dass einige Daten direkt vor Ort erhoben werden. Wie gehen die Standorte dabei vor?

Becker-Schwier: Die Schule verwendet klassische Anmeldebögen für Themen wie Anmeldezahlen und familiären Hintergrund. Die Bedarfsabfrage erfolgt jedoch oft durch persönliche Gespräche, da wir festgestellt haben, dass dies effektiver ist. Es gibt Sprachbarrieren oder hohe Hemmschwellen, die Eltern überfordern können. Einige Informationen werden auch über Piktogramme auf Papier erfasst, um sprachliche Hürden zu überwinden. Unser Fokus liegt tatsächlich auf der mündlichen Kommunikation in unserer Arbeit.

„Statistik ist keine Nebensache. Es erfordert spezifisches Know-how und den Austausch mit Expertinnen und Experten. Es ist entscheidend, Kennzahlen nicht zu kleinräumig zu fassen, um sie sinnvoll auswerten zu können.“

Jakob Bergen

Könnten Sie noch konkretisieren, wie die Daten für die Qualitätsentwicklung der FGZ und auch Steuerungsentscheidungen genutzt werden?

Becker-Schwier: Die Standortauswahl ist von großer Bedeutung. Manche Schulleitungen, die sich an einem sozialräumlich gut gelegenen Standort befinden, möchten ebenfalls, dass sich ihre Schule zu einem FGZ entwickelt. Doch dies ist in der Regel nicht möglich und nicht unbedingt sinnvoll und auch die Richtlinien lassen es in der Regel nicht zu. Wir nutzen Daten aus verschiedenen Quellen wie mündlichen Informationen, Bedarfsabfragen mit Piktogrammen, Daten des Gesundheitsamtes und Schuleingangsuntersuchungen. Diese Informationen helfen uns, maßgeschneiderte Angebote zu schaffen. Unsere Herangehensweise ist nicht starr. Wir überprüfen kontinuierlich, ob Anpassungen notwendig sind, da sich die Elternschaft und das Kollegium jedes Jahr verändern. Die ständige Veränderung der Bedürfnisse und Anforderungen erfordert eine flexible Entwicklung des FGZ.

Gibt es dieses Monitoring, das Sie beschrieben haben, schon seit Start der FGZ in Bielefeld oder wie hat es sich in den letzten Jahren entwickelt?

Bergen: Der Lebenslagenbericht, den ich zuvor beschrieben habe, existiert bereits seit 2006. Die sozialräumlichen Daten, auf die wir zugreifen, stehen uns in Bielefeld schon seit langer Zeit zur Verfügung. Die FGZ haben einfach ein weiteres Anwendungsfeld für diese Daten geschaffen. Es gab also bereits vorher eine Grundlage. Allerdings entwickelt sich der Bericht immer wieder weiter. In Bezug auf qualitative Daten wird ihre Bedeutung für uns immer größer. Früher lag der Fokus stark auf quantitativen Aspekten, aber heute betrachten wir Themen auch aus qualitativer Sicht. Das bedeutet, dass wir Interviews mit Expertinnen und Experten einbeziehen, um eine umfassendere Perspektive zu gewinnen. Wir versuchen, quantitative und qualitative Aspekte zu verbinden, da nicht alles allein durch Zahlen erfassbar ist.

Becker-Schwier: Eine Neuigkeit ist die Vielfalt der Bedarfsabfragen, sei es durch Gespräche, Piktogramm-Abfragen oder die „Wand der Wünsche“ an Schulstandorten. Dies war vor der Entwicklung der FGZ nicht in diesem Ausmaß vorhanden. Die Ideen gab es zwar schon, aber oft fehlten die personellen oder finanziellen Ressourcen, um sie umzusetzen. Die FGZ ermöglichen es uns nun, diese Ideen in die Praxis umzusetzen. Andere Datenquellen wie der kommunale Lernreport, Informationen des Gesundheitsamtes und Jugendamtes wurden bereits vorher erhoben, diese nutzen wir nun gezielter.

Wir wollen auch einen Blick in die kinderstark-Evaluation werfen. Der Aufbau eines solchen Monitorings wird laut Befragung nur von ca. einem Drittel der kinderstark-Koordinationskräfte verfolgt. Gleichzeitig stimmen in der Online-Befragung 94 Prozent von ihnen der Aussage zu, dass ein sozialräumliches Monitoring dazu beiträgt, Präventionsmaßnahmen gegen Kinderarmut zielgerichtet planen zu können. Wie erklären Sie sich das?

Bergen: Die Zusammenarbeit mit der Statistikstelle und kurze Wege innerhalb unseres Amtes erleichtern den Prozess erheblich. Wir haben personelle Ressourcen und ein gut etabliertes Netzwerk. Es war nicht immer so, aber über die Jahre haben wir Erfahrungen gesammelt, von denen wir jetzt profitieren. Wir haben ein gemeinsames Rollenverständnis entwickelt. Andere Kommunen haben möglicherweise auch nicht die gleiche Datenverfügbarkeit, ich habe die Bedeutung einer abgeschotteten Statistikstelle erwähnt, was die Umsetzung erschwert – zum Beispiel in kreisangehörigen Kommunen.

Becker-Schwier: Absolut, kurze Wege sind entscheidend. Innerhalb unseres Dezernats haben wir uns ein effizientes Netzwerk erarbeitet, von dem wir profitieren. Die Hierarchien und bürokratischen Hürden können in anderen Ämtern ein Hindernis sein. Die personellen Ressourcen, hierarchischen Strukturen und das Bewusstsein für die Wichtigkeit des Themas beeinflussen, ob diese Art der Datenerhebung durchgeführt wird. Es ist eine komplexe Angelegenheit, die viel Mitdenken und Planung erfordert.

Welche Empfehlungen haben Sie für Kommunen, die neu im Programm kinderstark sind, in Bezug auf die Wissensbasis und den Aufbau eines Monitorings?

Becker-Schwier: Beginnen Sie mit Gesprächen und Vernetzung auf allen Ebenen. Suchen Sie nach Partnerinnen und Partnern und wagen Sie, sich auf Augenhöhe auszutauschen. Daten werden bereits in kleineren Feldern erhoben, also nutzen Sie diese und denken Sie nicht, dass Sie allein vor einem großen Berg stehen. Es gibt Menschen, die Sie begleiten können.

Bergen: Fokussieren Sie sich auf zentrale Kennzahlen, auch wenn viele Daten verfügbar sind. Setzen Sie klare und kommunizierbare Themen, wie Kinderarmutsquote und SGB II-Quote. Nutzen Sie eine etablierte Sozialberichterstattung als Hintergrund, um Themen zu setzen und Diskussionen voranzutreiben. Daten sollten nicht nur für Berichte, sondern für operative Maßnahmen und Menschen Früchte tragen.

Becker-Schwier: Daten sind wichtig, aber nicht alles. Überlegen Sie genau, wofür Sie Daten benötigen und wann sie möglicherweise auch nicht im Vordergrund stehen sollten.

WEITERE INFORMATIONEN

Interview: Marisa Klasen und Sebastian Schardt, Wübben Stiftung Bildung
Foto: © Stadt Bielefeld
Kommune: Bielefeld
Website: Familiengrundschulzentren Bielefeld