EINBLICKE IN DIE PRAXIS

„Gesundheitsfragen in der Schule sind kein Schmankerl, sondern zentrale Voraussetzung für ein besseres Lernen der Kinder“

Prof. Dr. Sybille Stöbe-Blossey vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen macht im Interview deutlich, warum es so wichtig ist, Gesundheitsangebote an Grundschulen in sozioökonomisch benachteiligten Quartieren, sogenannten sozialen Brennpunkten, zu stärken, und geht dabei auf die Rolle der Familiengrundschulzentren ein. Sie zeigt zudem die Fallstricke bei Angeboten der Sekundärprävention auf.

Frau Prof. Dr. Stöbe-Blossey, Sie forschen seit Jahren zu den Familiengrundschulzentren und sind auch aktuell mit Fallstudien beschäftigt, bei denen Sie unter anderem Schulleitungen, Leitungen von Familiengrundschulzentren und Mitarbeitende der Kommunalverwaltungen befragen. Spielt das Thema Gesundheit bei den Befragten eine große Rolle? Wie sind darüber hinaus Ihre Erfahrungen im Kontext Gesundheit und Familiengrundschulzentren?

Sybille Stöbe-Blossey: Gerade in den zurzeit laufenden Fallstudieninterviews habe ich den Eindruck, dass das Thema Gesundheit in den Familiengrundschulzentren (FGZ) eine wachsende Rolle spielt. Wir merken, dass das ein Thema ist, das in zunehmendem Maße brennt. Wir sehen in den FGZ eine große Vielfalt von gesundheitsbezogenen Angeboten, vor allem auf dem Gebiet der Primärprävention. Ein Beispiel ist der Open Sunday. Bei dem Angebot werden Turnhallen am Wochenende für Eltern-Kind-Angebote geöffnet. Es gibt viele Angebote im Bereich Ernährung wie Kochkurse oder Initiativen zum Thema gesundes Frühstück. Viele Kinder kommen in den Vierteln der FGZ ohne Frühstück oder mit einer Tüte Chips in die Schule. Wenn die Kinder in der Schule erleben, wie lecker ein gesundes Frühstück sein kann, dann ist das der effektivere und natürlichere Weg, als wenn die Schule den Eltern einen Vortrag über gesunde Ernährung hält und versucht, sie in diese Richtung zu drängen.

Wir sehen zudem Sportangebote wie Yoga für Kinder und für Eltern oder Achtsamkeitstrainings. Da ist unser Eindruck, dass diese Angebote vor allem im ländlichen Raum eine größere Rolle spielen. Denn dort gibt es nicht viele weitere Angebote. Wenn es in einer Großstadt an jeder Ecke ein Familienbildungszentrum, eine Volkshochschule oder ein Fitnessstudio gibt, dann muss man diese Angebote nicht unbedingt noch an die Schulen holen. Das sieht aber im ländlichen Raum anders aus, übrigens auch in Randbereichen von Großstädten. Wir sehen bei den Angeboten, dass teilweise die Grenze von der Primärprävention zur Sekundärprävention an vielen Stellen überschritten wird, weil es notwendig ist, eine Antwort auf Probleme zu geben, die durch den Kontakt mit Familien in Angeboten der Primärprävention deutlich werden. Gerade jetzt als Folge der Corona-Pandemie sind bei den Kindern viele Beeinträchtigungen zu sehen. Es gibt zum Beispiel Psychomotorik-Angebote, die sich gezielt an Kinder richten, die dieses Angebot nötiger haben als andere. Die Kette von der Primärprävention zur Sekundärprävention und die Verknüpfung zwischen beidem, die insgesamt charakteristisch für ein FGZ ist, sehen wir im sozialpädagogischen Bereich durch die Verknüpfung von FGZ und Schulsozialarbeit – und wir sehen einen wachsenden Bedarf nach einer solchen Kette im Bereich Gesundheit.

"Wenn die Kinder in der Schule erleben, wie lecker ein gesundes Frühstück sein kann, dann ist das der effektivere und natürlichere Weg, als wenn die Schule den Eltern einen Vortrag über gesunde Ernährung hält und versucht, sie in diese Richtung zu drängen."

Ich würde noch einen Punkt ergänzen: Vor kurzem wurde nach Veröffentlichung der IQB-Bildungstrends mit Blick auf fehlende Basiskompetenzen der Kinder im Bereich Deutsch und Mathematik Alarm geschlagen. Daraus wird häufig die Schlussfolgerung gezogen, dass die Basiskompetenzen gestärkt werden müssen – und das ist richtig. Ein Kind, das in der Grundschule keine Basiskompetenzen in Deutsch und Mathe erwirbt, wird in der gesamten weiteren Bildungsbiografie viele Schwierigkeiten haben. Ich sehe allerdings in Teilen der Schul- und Bildungsforschung, dass die Kompetenzen sehr eindimensional betrachtet werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Vermittlung der Basiskompetenzen mit den richtigen Unterrichtsprogrammen schon funktioniert. Aber so ohne Weiteres funktioniert das in Schulen in sozialräumlich schwierigen Lagen definitiv nicht. Denn dort muss man ganz besonders auf die Rahmenbedingungen schauen, auf die Familie, auf das Wohlbefinden der Kinder und auch die gesundheitlichen Voraussetzungen. Wenn ich nicht gefrühstückt habe, bin ich nicht gut in der Lage zu lernen oder etwas Sinnvolles zu tun. Deshalb brauchen wir ein noch stärkeres Bewusstsein dafür, dass diese Gesundheitsfragen in der Schule nicht nur ein nettes Add-on oder ein Schmankerl sind, sondern dass man damit zentrale Voraussetzungen für ein besseres Lernen der Kinder schafft.

Sie haben aufgezeigt, dass Familiengrundschulzentren insbesondere im Bereich der Primärprävention aktiv sind. Sollten Familiengrundschulzentren weitere gesundheitsspezifische Angebote machen können?

Stöbe-Blossey: Ja, und zwar aus mehreren Gründen. Die Primärprävention kann man nie isoliert sehen, weil man dann auf die Probleme, die dabei auftauchen, eine Antwort geben muss. Deswegen gehen viele FGZ inzwischen davon aus, dass es eine horizontale Präventionskette geben muss. Wir reden immer von der vertikalen Präventionskette über die Altersstufen hinweg, aber wir brauchen auch eine horizontale Präventionskette, eine Vernetzung der verschiedenen Angebote für das jeweilige Individuum zur gleichen Zeit. Dafür ist die Grundschule in mehrfacher Hinsicht ein geeigneter Ort. Sie ist ein Ort, an dem die Kinder sehr viel Zeit verbringen und der Rechtsanspruch auf Ganztag verstärkt das noch. Die Kinder sind dann in einer Ganztagsschule von morgens um 8 Uhr bis nachmittags um 16 oder 17 Uhr. Es gibt wahrscheinlich kaum ein Kind, das danach noch in der Lage ist, irgendein therapeutisches Angebot wahrzunehmen. Entweder wir holen auch diese Angebote stärker in die Schulen oder Kinder im Ganztag werden Schwierigkeiten haben, davon zu profitieren. Der zweite zentrale Punkt ist, dass Angebote wie Logopädie oder Ergotherapie ein starkes Element von Sekundärprävention sind. Ein Kind, das aus motorischen Gründen keinen Stift halten kann oder sprachliche Schwierigkeiten hat, wird in allen Bildungsbereichen im nächsten Schritt Schwierigkeiten haben. Daher sind gerade diese therapeutischen Angebote ein zentrales Präventionselement. Wir haben ein massives Zugangsproblem bei diesen Angeboten. Die Dichte von therapeutischen Angeboten unterscheidet sich je nach Stadtteil. Zudem müssen die Eltern mobil sein, Zeit und vor allem die Organisationsmöglichkeiten haben, 37 Praxen abzutelefonieren, um vielleicht dann doch im 38. Anlauf einen Termin zu bekommen. Sie müssen Kinderärztinnen und Kinderärzte überzeugen, ein Rezept auszustellen. Das wird unter Budgetrestriktionen auch nicht einfach sein. Wenn es Möglichkeiten gibt, diese Angebote in die Schulen reinzuholen, die Kinder dort zu erreichen, wo sie sind, und den Eltern diese Zugangsprobleme abzunehmen, dann würde das einen großen Effekt haben.

Nun eine Frage an Sie als Politikwissenschaftlerin. Gerade in der horizontalen Prävention haben wir eine immense Akteursvielfalt, welche oft zu Verantwortungsdiffusion führt. So entstehen viele Fragen zu Versicherungsschutz, Kostenübernahmen etc., deren Klärung viel Zeit in Anspruch nimmt und manchmal auch nicht gelingt.  Welche Hebel müssten daher bewegt werden, um pragmatisch und vielleicht auch mittelfristig therapeutische Angebote an Familiengrundschulzentren flächendeckend möglich zu machen?

Stöbe-Blossey: Therapeutische Angebote sind nur ein Teil des Ganzen. Ich habe diesen Aspekt stark hervorgehoben, da es einer der Bereiche ist, der am schwierigsten zu realisieren ist. Dass wir die therapeutischen Angebote vor Ort brauchen, wissen wir aus dem Bereich der Familienzentren an Kitas seit gut 15 Jahren. Aber die Interessenlagen sind sehr unterschiedlich. Die Krankenkassen haben Interessen. Die möchten aus Budgetgründen nicht zu viele Therapien ermöglichen und da reicht häufig das Argument im Sinne der Prävention nicht aus. Denn das Kind, dass schon im Grundschulalter Schwierigkeiten hat, kommt später mit seinen Bedarfen nicht zur Krankenkasse, sondern landet dann in der Jugendhilfe. Das heißt, für die Krankenkasse gibt es keinen unmittelbaren Return on Investment. Die Berufsverbände haben ebenfalls Interessen. Dort geht es um die Abrechnung von Hausbesuchen, darum, dass die räumlichen Ausstattungen in der jeweiligen eigenen Praxis besser sind als in der Schule. Es gibt Ängste vor Konkurrenzen, zum Beispiel, dass die Logopädin oder der Logopäde an einer Schule oder an einer Kita arbeitet und auf diese Weise Kunden akquirieren kann. Am Ende müssen wir darüber diskutieren, ob man berufspolitische Interessen und die Interessen von Kindern und Familien nicht anders gewichten müsste. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive muss man letzten Endes sagen: Organisierte Interessen und gesamtgesellschaftliche Interessen sind nicht immer ganz einfach kompatibel.

Bei vielen Angeboten der Primärprävention ist die kommunale Koordinierung wichtig. Zum Beispiel Angebote wie der Open Sunday funktionieren sonst nicht. Wenn jede Schule sich selbst darum kümmern müsste, an welchem Sonntag ein Angebot in welcher Turnhalle stattfinden kann, dann ist das kaum umzusetzen. Wenn dieses Vorhaben aber über Kommune, Stadt, Sportbund etc. unterstützt und koordiniert wird, dann ist das für die Schulen eine Entlastung. Denn wenn eine Fachkraft an einem FGZ mit einer halben Stelle tätig ist und sich die Hälfte ihrer Zeit mit Administration, mit Mittelakquise und den unterschiedlichen Förderrichtlinien der unterschiedlichsten Kostenträger beschäftigen muss, dann ist das unter dem Gesichtspunkt der vorhandenen Ressourcen nicht effizient. Das heißt, wir brauchen erstens einfache und klare Förderprogramme und zweitens Kommunen, welche die Programme koordinieren und die Fachkräfte vor Ort so weit wie möglich entlasten. Da kann die Kommune eine ganze Menge tun.

WEITERE INFORMATIONEN

Interview: Gregor Entzeroth und Marisa Klasen, Wübben Stiftung Bildung
Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda