EINBLICKE IN DIE PRAXIS

Jede Grundschule in Nordrhein-Westfalen sollte ein Familienzentrum werden

Vor sieben Jahren ist die Idee der Familiengrundschulzentren in Gelsenkirchen entstanden. Die Vision damals: Schule ist ein Ort des Lebens und Lernens der gesunden und glücklichen Kinder. Wir haben in Gelsenkirchen nachgefragt, ob Wünsche und Hoffnungen von damals in Erfüllung gegangen sind und blicken mit Neriman Aksoy, kommunale Koordinatorin für Familiengrundschulzentren bei der Stadt Gelsenkirchen, auch in die Zukunft.

Liebe Frau Aksoy, wie ist vor sieben Jahren in Gelsenkirchen die Idee entstanden, das Konzept der Familienzentren an Kitas auf Grundschulen zu überführen?

Neriman Aksoy: Nachdem der Erfolg der Familienzentren an Kitas beobachtet und auch gemessen werden konnte, entstand die Idee, dieses erfolgreiche Modell auf die Grundschulen zu übertragen. Ziel war es, einen nahtlosen Übergang zu schaffen. Denn auch mit Blick auf die Präventionskette haben wir genau an dieser Stelle eine Lücke entdeckt.

Die Verwaltung in Gelsenkirchen hat daher 2014 entschieden, das Konzept der Familienzentren an Grundschulen zu erproben und aus kommunalen Mitteln eigenständig das erste Familiengrundschulzentrum einzurichten. 2014 fanden dann verschiedene Workshops gemeinsam mit der Wübben Stiftung statt. Es standen damals viele Ideen im Raum, vor allem zum Thema der Übergänge zwischen den Schulformen. Aus diesen Überlegungen und dem, was sich in Gelsenkirchen in der Erprobung befand, entstand die Idee, eine Entwicklungspartnerschaft im Kontext der Familiengrundschulzentren einzugehen. Im Mai 2015 haben die Stadt Gelsenkirchen und die Wübben Stiftung die Entwicklungspartnerschaft besiegelt und so wurde die Entwicklung von Familiengrundschulen vorangetrieben.

"Die große Hoffnung war, dass eine echte Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Eltern und Schule erreicht werden kann."

Was haben Sie sich von dieser Idee in Gelsenkirchen erhofft?

Wir haben gehofft, dass das Konzept der Familienzentren an Kitas auch an Grundschulen funktioniert. Schafft man es, Eltern in die Schule zu lotsen und sie willkommen zu heißen? Im Zuge dieser Überlegungen, sind folgende vier Säulen entstanden: Eltern mit Information und Beratung versorgen, Eltern stärken, Eltern durch niedrigschwellige Angebote in die Schule holen und Eltern konkrete Angebote im Bereich der Übergange zwischen den Schulformen unterbreiten. Wir haben gehofft, dass es in jedem Stadtteil mit Familienzentrum gelingt, ein Netzwerk aufzubauen, dieses zu stärken und weiterzuentwickeln. Die große Hoffnung war, durch diese Grundidee Eltern so weit zu stärken und auch Schule so weit dahin zu bewegen, sich zu öffnen, dass eine echte Erziehungs- und Bildungspartnerschaft erreicht werden kann.

Sind Ihre Hoffnungen in Erfüllung gegangen?

Unsere Hoffnungen sind in Erfüllung gegangen, sonst wäre nach fünf Jahren Projektlaufzeit keine Verstetigung möglich gewesen. Wenn wir uns heute anschauen, wie sich das Konzept der Familiengrundschulzentren weiterentwickelt und ausgeweitet hat, sind wir sehr glücklich: Auf Bundesebene sind weitere Bundesländer dabei, Familiengrundschulzentren einzurichten. In NRW gibt es inzwischen zwei Förderrichtlinien, die von MKFFI und MSB auf den Weg gebracht wurden, und es besteht von vielen Kommunen ein großes Interesse am Thema. Da sind unsere Hoffnungen auf jeden Fall in Erfüllung gegangen.

Aber auch die wissenschaftliche Begleitung unserer ersten Familiengrundschulzentren hat bereits nach drei Jahren gezeigt, dass es eine positive Tendenz gibt. Wir haben zusätzlich, verschiedene Befragungen und Interviews in den Familienzentren durchgeführt. Auch diese haben gezeigt, dass das Modell erfolgreich ist. Nachdem wir sechs Familiengrundschulzentren eingerichtet haben und die Entwicklungspartnerschaft 2019 zu Ende gegangen ist, war das Schöne, dass es weitergegangen ist. Familiengrundschulzentren sind in den Fokus gerückt, der Erfolg ist deutlich geworden, es konnte das Interesse der Öffentlichkeit geweckt werden und ich habe insgesamt 35 Kommunen aus ganz Deutschland zu diesem Thema beraten. Als in NRW dann 2020 und 2021 die beiden Förderrichtlinien entstanden sind, haben wir uns dadurch auch weiterentwickeln können. In Gelsenkirchen entstehen noch vier weitere Familiengrundschulzentren. In dem Prozess war es schön zu sehen, dass das Vertrauen der Schulleitungen, der Lehrkräfte und der Familien da ist. Die Beantragung der neuen Familiengrundschulzentren hat innerhalb weniger Tage funktioniert. Alle Schulleitungen und Lehrkräfte haben sofort zugestimmt. Das zeigt so deutlich, was wir in den vergangenen Jahren geschafft und erreicht haben.

Welche Vision haben Sie damals für Familiengrundschulzentren entwickelt?

Wir haben damals für Familienzentren die Vision entwickelt, dass Schule ein Ort des Lebens und Lernens der gesunden und glücklichen Kinder sein soll. Heute ist es schon so, dass viele Schulleitungen Schule und Familienzentrum als eines sehen. 2/3 des Schulerfolges von Kindern hängt in der Grundschule vom Elternhaus ab. Deshalb ist es aus Perspektive der Schule absolut naheliegend, im Sinne der Kinder, die Eltern mit ins Boot zu holen. Eigentlich müsste jede Grundschule ein Familienzentrum werden. Familiengrundschulzentren schaffen Vertrauen, ermöglichen ein Begegnen auf Augenhöhe in Schule und stärken die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft von Schule und Eltern. Es ist nicht mehr so, dass Eltern erst dann in die Schule eingeladen werden, wenn es Probleme gibt und Schule für Bildung und Eltern für Erziehung zuständig sind. Sondern sie sind Partner auf Augenhöhe, die für Erziehung und Bildung der Kinder gemeinsam zuständig sind.

In Gelsenkirchen entstehen derzeit vier weitere Familiengrundschulzentren. Wie hat sich das Konzept der Familiengrundschulzentren seit Start 2014 verändert bzw. weiterentwickelt?

Wir hatten in Gelsenkirchen den Vorteil und auch Luxus, dass wir fünf Jahre von der Wübben Stiftung begleitet wurden. Diese Entwicklungspartnerschaft hat uns Zeit und Möglichkeit gegeben, vieles zu erproben. Wir haben uns in dieser Zeit auch schon viele Gedanken zu Nachhaltigkeit und Verstetigung nach Ende der Projektlaufzeit gemacht. Im Januar 2020 wurden die Familiengrundschulzentren in Gelsenkirchen dann verstetigt. Aus den gemachten Erfahrungen, Stolpersteinen, Hindernissen, Schwierigkeiten und Rollenklärungen haben wir eine Grundlage erarbeitet – eine Leistungsbeschreibung für die Familienzentren an Grundschulen in Gelsenkirchen. Diese ist auch heute noch die Grundlage für unsere Arbeit. Wir wollen das Konzept der Familiengrundschulzentren stetig weiterentwickeln. Im Moment finde ich es allerdings noch zu früh, an diesem Grundgerüst etwas zu ändern. Aber in Zukunft macht das bestimmt zu einem Zeitpunkt Sinn. Wir sind nicht mehr allein mit der Idee der Familiengrundschulzentren. Wir lernen durch den interkommunalen Austausch in der Initiative Familiengrundschulzentren NRW gerade viel von anderen Kommunen und haben die Chance, uns gemeinsam weiterzuentwickeln.

Welche Rolle haben Familiengrundschulzentren in Gelsenkirchen in der Pandemie gespielt? Sind auch neue Ideen entstanden, die sich so bewährt haben, dass sie diese beibehalten?

Zu Beginn der Pandemie im März 2020 war erstmal alles dicht. Wir haben uns damals viele Fragen gestellt: Was passiert mit den aufgebauten Beziehungen? Was ist mit den Kindern? Wie kommen die Familien durch die Zeit? Nach dieser starken Handbremse, so habe ich es empfunden, hat es nicht lange gedauert, bis die ersten kreativen Ideen aus den Familienzentren da waren. Es war kein langer Stillstand. Die einzelnen Leitungskräfte waren schnell aktiv, denn gerade in dieser Situation waren die Familiengrundschulzentren besonders gefragt.

Erste Ideen waren To-Go- Angebote für Familien, Online-Beratungstermine, telefonische Beratung und auch persönliche Treffen vor dem Schultor im Freien. Diese Möglichkeiten wurden entwickelt und genutzt. Auch digitale Angebote wurden von Eltern und Kindern angenommen und auch klassische Angebote wie eine Schnitzeljagd haben funktioniert. Es wurden Spieleboxen zusammengestellt, Bücherkisten und Spiele für Drinnen und Draußen für die ganze Familie gepackt, die man sich dann für eine Woche ausleihen konnte.  An der Situation haben wir gesehen, dass auch diese die Arbeit der Familiengrundschulzentren nicht stoppen konnte. Gerade das finde ich sehr schön.

Wir haben viele Erfahrungen gesammelt und nun viele Ansätze für unterschiedliche Situationen. Wenn jetzt kein Elterntreff im klassischen Sinne im Schulraum stattfinden kann, dann gehen wir spazieren oder wandern. Auch interessant sind die digitalen Angebote. Wenn wir vorher Yoga vor Ort angeboten haben, kann dies jetzt auch digital angeboten werden. Das persönliche Treffen kann das nicht ersetzen, aber digitale Angebote haben auch Vorteile: Viele berufstätige Eltern können sich dadurch Anfahrten ersparen, können aber trotzdem am Angebot teilnehmen. Die Pandemie wird uns noch eine Zeit begleiten und wir werden schauen, was sich entwickelt, was sich bewährt und später hat man vermutlich eine Mischung aus digitalen und Vor-Ort Angeboten.

Mit Blick auf die digitalen Angebote dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass hier in NRW und im Ruhrgebiet viele zugewanderte Familien leben, die teilweise nicht die Möglichkeit haben, an diesen digitalen Angeboten teilzunehmen, da sie keinen Internetzugang haben. In diesen Stadtteilen gilt es, weiter kreativ zu sein und auf klassische Art und Weise Pakete vorzubereiten. Denn gerade diese Familien dürfen jetzt nicht durchs Raster fallen.

Was wünschen Sie sich mit Blick auf die Entwicklung von Familiengrundschulzentren in NRW?

Ich wünsche mir, dass jede Schule in NRW ein Familiengrundschulzentrum ist. Dann kann man auch unter den benachbarten Schulen mehr kooperieren und die Ressourcen gemeinsam nutzen. Was wir in fünf Jahren gelernt haben und definitiv auch weitergeführt werden muss, ist zu verstehen, dass Familienzentren an Grundschulen aufzubauen und zu führen immer ein Schulentwicklungsprozess ist. Das ist ein langer Prozess und der braucht Zeit. Wenn ich mir in fünf bis zehn Jahren das Ganze anschaue, dann wünsche ich mir Fortschritte mit Blick auf Schulentwicklung und Haltung. Damit meine ich die Begegnung auf Augenhöhe in der Partnerschaft zwischen Schule und Eltern, sich in wertschätzender Art zu begegnen und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.

Ich hoffe, dass wir in Zukunft auch die Chance haben, den Erfolg von Familiengrundschulzentren auf eine andere Art messen zu können. Unsere Zielgruppe sind zunächst die Eltern, die wir soweit stärken wollen, dass sie als gleichberechtigte Partner mit Schule Hand in Hand im Sinne der Kinder zusammenarbeiten. Was das mit den Kindern macht, das braucht Zeit und da wünschte ich mir, dass man in zehn bis 15 Jahren eine Entwicklung sehen kann. Sagen zu können, das Kind hat etwas mit Familiengrundschulzentren zu tun, die Eltern hatten eine Grundschule mit Familienzentrum und ein Teil der positiven Entwicklung des Kindes ist darauf zurückzuführen. Das wäre mein Wunsch und das ist glaube ich gar nicht so unrealistisch.

WEITERE INFORMATIONEN

Interview: Simone Wans, Freie Journalistin
Foto: © Simone Wans
Kommune: Gelsenkirchen
Website: Familiengrundschulzentren in Gelsenkirchen