EINBLICKE IN DIE PRAXIS

Nicht Jammern, sondern machen

… das ist die Devise von Kornelius Knettel, Leiter des Familiengrundschul-
zentrums Sonnenstraße in Düsseldorf. Wie es ihm und seinem Team – trotz
der alltäglichen Herausforderungen der Schule im Brennpunkt – gelingt, das
Beste für die Schülerinnen und Schüler herauszuholen.

Wer die Oktopusklasse des Familiengrundschulzentrums Sonnenstraße in Düsseldorf besucht, läuft unter einer Schnur mit bunten Flaggen hindurch und wird auf Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch und Arabisch begrüßt. In der ersten Klasse sitzen Kinder aus acht verschiedenen Ländern: von Albanien und Indien über Marokko und Polen bis zur Ukraine und Vietnam. Mehr als 90 Prozent von ihnen sprechen zu Hause nicht Deutsch, während sich einige im Unterricht trotzdem gut verständigen können, verstehen andere kein Wort. Die Schule liegt in Oberbilk, wo die Armutsrate und auch der Migrationsanteil höher sind als in anderen Stadtteilen der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt. Über 70 Prozent der Eltern bekommen soziale Hilfeleistungen. Das Familiengrundschulzentrum Sonnenstraße mit seinen 319 Kindern gehört dem Sozialindex von Nordrhein-Westfalen zufolge zu den 9 Prozent der Grundschulen, die landesweit am stärksten belastet sind. Bildungsstudien zeigen immer wieder, dass Kinder, die an Schulen im Brennpunkt lernen, schlechtere Bildungschancen haben, sie die Mindeststandards häufiger nicht erreichen und auf ihrem Bildungsweg besonders große Hürden nehmen müssen.

Eine Schule, viele Herausforderungen

Wer Schulleiter Kornelius Knettel, Jeans, bordeauxfarbener Pullover, dunkler Vollbart, nach den Herausforderungen fragt, bekommt ehrliche Antworten: „In unseren Klassen sitzen fast durchgängig 29 Kinder: Sehr viele sprechen kein Deutsch und sind aufgrund der Coronapandemie wenig sozialisiert. Sie haben kaum Zeit im Kindergarten verbracht und haben im häuslichen Umfeld nicht die Unterstützung, die man sich wünscht. Es gibt extrem viele Erstklässlerinnen und Erstklässler, die Schwierigkeiten haben, drei Minuten stillzusitzen und konzentriert zu arbeiten.“ Wenn er das sagt, klingt es realistisch, aber nicht desillusioniert. Knettel, ausgebildeter Sonderpädagoge und seit zehn Jahren an der Schule, ist ein Macher. „Wir jammern schon gar nicht mehr. Mein Kollegium weiß, dass ich das nicht hören will. Das hilft uns nicht. Wir machen weiter, sonst funktioniert es nicht.“ Das ist seine Haltung – und die vieler seiner Kolleginnen und Kollegen.

In der Oktopusklasse dreht sich an diesem Vormittag alles um den Buchstaben P. Die Erstklässlerinnen und Erstklässler sitzen mit ihrem Lehrer Bernd Ruzicska, Cargohose, schwarzes T-Shirt und Kapuzenjacke, im Stuhlkreis. Mit viel Geduld und ruhiger Stimme gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit der Kinder zu gewinnen. „Welche Worte fallen euch mit P ein?“, fragt er und die Antworten folgen prompt: Papa, Puppe, Pipi, Popo. Die Kinder kichern. „Wo steht das P bei dem Wort Apfel? Am Anfang, in der Mitte oder am Ende?“ So geht es ein paar Minuten, dann erklärt der Pädagoge das Arbeitsblatt, das er danach austeilen wird. „Wenn ihr die erste Seite fertig habt, könnt ihr auch mit dem Tablet oder dem Schulbuch weiterarbeiten. Mir ist wichtig, dass ihr das selbst entscheidet.“

Zurück an ihren Plätzen, schaffen einige Kinder nur mit Mühe, das P auf Papier zu bringen, andere schnappen sich nach ein paar Minuten das Tablet. Die siebenjährige Sonja, blonde Haare, blauer Pulli, wacher Blick, gibt über den Touchscreen das Wort „Pirat“ in eine vorbereitete Mindmap ein. „Ich will immer lernen“, sagt sie und tippt weiter. Was sie an ihrer Schule besonders mag? „Dass bei uns immer die Sonne da ist.“ Wer die Schule besucht, erkennt schnell, dass sich die Sonne nicht nur im Namen und Schullied zeigt und von Wänden und Fenstern des Gebäudes lacht, sondern sich vor allem durch die Menschen bemerkbar macht, die hier arbeiten – mit viel Wärme, Energie und Wertschätzung für die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler, stets darauf bedacht, die Potenziale zu stärken, die in den Kindern schlummern.

„Die Kinder sind für mich die Motivation. Die Familien, das Lachen, wenn ich auf den Schulhof komme und die Kinder mich begrüßen."

Schulleiter Kornelius Knettel

Individuell fördern, ohne zu überfordern

„Wir stecken viel Ressourcen in die ersten beiden Jahre“, sagt Lehrer Ruzicska. „Die Kinder sind sehr unterschiedlich. Einige brauchen sehr viel Zuwendung und Anleitung. Wir fördern die Kinder da, wo sie stehen – ohne sie zu überfordern.“ In seiner Klasse lernen Mädchen und Jungen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf; ein Kind ist gerade bei der Ergotherapie, ein anderes übt mit einer Ehrenämtlerin das Lesen. Hier bekommt jedes Kind das, was es braucht. Um das leisten zu können, wird vor allem eines benötigt: genügend Personal. „Wir haben nur acht grundständig ausgebildete Grundschullehrkräfte für zwölf Klassen. Diese Zahl sagt alles“, betont Schulleiter Knettel. Ein Problem, das nicht nur das Familiengrundschulzentrum Sonnenstraße hat, wie eine nun veröffentlichte Umfrage der Wübben Stiftung Bildung zeigt. Von den knapp 150 Leitungen der Schulen in Brennpunkten haben 75 Prozent angegeben, dass die personellen Ressourcen an ihren Schulen eher oder sehr schlecht sind. Da deutschlandweit an nahezu allen Schulen Lehrkräfte gesucht werden, ist es für diejenigen in Brennpunkten noch schwieriger, Personal zu finden. „Wer an diese Schule kommt, der muss es wollen. Hier bringt man nicht nur Deutsch und Mathe bei, es ist viel mehr als das“, sagt Knettel. Viel mehr bedeutet auch viel mehr Arbeit als an anderen Schulen. „Bei uns haben die Lehrkräfte nicht um 13:30 Uhr frei. Nach Unterrichtsschluss führen sie Elterngespräche oder haben Termine mit den Jugendämtern. Wenn wir das nicht machen würden, würde es den Kindern und Familien nicht so gut gehen.“ Für Knettel, selbst Vater von sechs Kindern, ist es kein Job, sondern eine Lebensaufgabe, daher setzt er sich oft abends um 19 Uhr und auch am Wochenende noch mal an den Schreibtisch.

Mitte Februar kam in der Sonnenstraße ein Brief von der Schulaufsicht mit ernüchterndem Inhalt an: Auch im kommenden Schuljahr wird es keine neuen Stellenzuweisungen für Lehrkräfte geben. „Null Komma null Traurig, aber wahr“, sagt Knettel, nun mit gedämpfter Stimme. Wie motiviert er sich weiterzumachen, wenn sich die Bedingungen zunehmend prekärer gestalten? „Die Kinder sind für mich die Motivation. Die Familien, das Lachen, wenn ich auf den Schulhof komme und die Kinder mich begrüßen“, sagt er und ergänzt schmunzelnd, aber dennoch ernsthaft: „Und es ist auch ein Aufbegehren gegen das System. Ich war schon immer einer, der sich gewehrt hat. Ich kann schlecht Dinge akzeptieren, die in meinen Augen unfair sind.“

"Wir stecken viel Ressourcen in die ersten beiden Jahre."

Lehrer Bernd Ruzicska

Wertschätzung als Leitgedanke

Knettel und sein Team wissen, was die Schule für die Kinder und Eltern bedeutet: Sie ist nicht nur ein Lernort, sondern ein „Anker“ im Sozialraum. „Die Kinder kommen glücklich zur Schule und freuen sich auf das, was sie erwartet. Sie merken, dass sie so aufgenommen und angenommen werden, wie sie sind“, betont der Schulleiter. Diese wertschätzenden Grundsätze stehen auch auf einem Poster, das in Knettels Zimmer hängt und verrät, welche Sätze Kinderohren brauchen: Ich hab dich lieb! Ich glaub an dich! Gut gemacht! Du bist etwas Besonderes! Ich bin stolz auf dich! Wie ein Mantra schwingen diese Sätze während der Arbeit in den Köpfen des Kollegiums mit. Es ist 11:45 Uhr und durch die Schule hallt ein lautes Ding Dang Dong. Heute ist es nicht die Pausenklingel, sondern die Stimme eines Lehrers, der den Gong imitiert, weil dieser kaputt ist. Knettel versucht, sich den Weg durch den Flur zu bahnen. Ein Mädchen kommt freudig auf ihn zu und umarmt ihn. „Herr Knettel, ich hab eine Eins minus bekommen!“, ruft ihm ein Junge strahlend entgegen. „Siehst du, hab ich doch gesagt“, antwortet der Schulleiter und läuft die Treppe weiter runter zum Haupteingang. Direkt dahinter liegt das Lernzentrum oder – wie Knettel es formuliert – „das Herz der Schule“.

Schulentwicklung bringt Mehrwert

Dort wird das umgesetzt, was er und sein Team in einem intensiven Schulentwicklungsprozess erarbeitet haben, um – trotz aller Herausforderungen – die Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler nachhaltig zu verbessern: das Konzept der Lernwege. Entstanden ist es im Rahmen des Programms „impakt schulleitung“ der Wübben Stiftung Bildung. Es sieht vor, dass die Kinder eine Stunde am Tag selbst entscheiden, ob sie lesen, schreiben, rechnen oder die eigene Wahrnehmung schulen möchten – ganz in ihrem Tempo und nach ihren individuellen Voraussetzungen. Aus bunten Fächern können sie sich Aufgabenblätter nehmen, die die Lehrkräfte entwickelt haben. Die Materialien sind an den Unterricht angelehnt, aber keine Voraussetzung für ihn und umgekehrt. Die Sammlung, die seit sechs Jahren genutzt wird, wächst stetig und wird immer wieder angepasst. Jeweils vier bis sechs Kinder aus den Klassen 1 bis 4 lernen gemeinsam im Zentrum. Dabei werden sie beaufsichtigt, Lernziele werden kontrolliert, Fortschritte festgehalten, nächste Aufgaben angegangen. Parallel zu diesem Konzept wurde die Hausaufgabenzeit abgeschafft. „Durch die Lernwege merken die Kinder, dass sie eine Verantwortung haben und selbst mitgestalten können“, sagt Lehrer Bernd Ruzicska. Das gibt ihnen Selbstvertrauen und liefert Motivation. Gleichzeitig entlastet das selbstständige Lernen die Lehrkräfte: Die Betreuung der Lernwege übernehmen zum Beispiel Lehramtsstudierende oder Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, die Lehrkräfte haben in dieser Stunde dann mehr Zeit für weniger Kinder in ihrer Klasse. Win-win für alle!

Vor zwei Jahren kam noch eine weitere Entwicklung dazu, die der Gemeinschaftsgrundschule sogar einen neuen Namen beschert hat: Die Schule ist zum Familiengrundschulzentrum Sonnenstraße geworden. Unter diesem Dach sammeln sich nun alle Angebote: angefangen vom Unterricht, über die offene Ganztagsschule bis hin zur Schulsozialarbeit und zum Elterncafé. Ziel der „Familiengrundschulzentren“ ist es, die Eltern in Brennpunkten zu unterstützen sowie Erziehungs- und Bildungspartnerschaften auszubauen, um dadurch die Bildungschancen der Kinder zu verbessern. „Wir sind nicht nur eine Schule und ein Lernort für die Kinder, sondern ein Begegnungszentrum für die ganze Familie“, betont Koordinatorin Zerga Tulan, weißer Pullover, Jeans, die dunklen Haare hochgesteckt. Denn insbesondere Kinder mit hohen Bedarfen – das wusste das Schulteam schon lange – kann es am besten fördern, wenn die Eltern mit an Bord sind.

Vielfältige Angebote für Kinder und Eltern

Das Familiengrundschulzentrum Sonnenstraße ist eines von drei Zentren in Düsseldorf und mehr als 150 in Nordrhein-Westfalen. Welche Angebote ein Familiengrundschulzentrum macht, entscheiden die Akteurinnen und Akteure vor Ort. In der Sonnenstraße sollten an diesem Prozess alle beteiligt werden: Daher hat das Kollegium die Kinder und Eltern gefragt, was sie sich von ihrer Schule wünschen Sie haben Ideen gesammelt, Workshops durchgeführt, gemeinsam Leitgedanken und ein großes Wimmelbild entwickelt. Nun gibt es noch vielfältigere Angebote, die zusammen mit Ehrenamtlichen und Kooperationspartnern aus dem Sozialraum durchgeführt werden: etwa Eltern-Kind-Nachmittage, Sprach-, Koch- und Yogakurse und die Möglichkeit, im Unterricht zu hospitieren. Koordinatorin Tulan zufolge werden die Angebote gut wahrgenommen und Mütter und Väter besuchen – auch unabhängig von Elternsprechtagen oder Krisengesprächen – immer häufiger die Schule und wenden sich mit ihren Anliegen an das Team. „Egal, mit welcher Frage die Eltern kommen, wir schicken niemanden weg oder sagen, dass wir dafür nicht zuständig sind. Wir haben im Sozialraum zahlreiche Kontakte geknüpft und kennen viele Akteure, von denen immer einer weiterhelfen kann.“ Das schafft Vertrauen und wirkt auf vielen Ebenen. Dass mit der Schulentwicklung und der Gründung des Familiengrundschulzentrums viel Arbeit verbunden ist, verschweigen die Kolleginnen und Kollegen aus der Sonnenstraße nicht: „Dieser Strukturwandel war anstrengend. Wir haben diesen Prozess vorangetrieben, während wir alle anderen Aufgaben normal weiter erledigt haben“, erzählt Lehrer Ruzicska. „Aber es hat sich gelohnt! Wir bekommen unglaublich viel zurück, vor allem von den Kindern, die besonders viel Hilfe benötigen. Das ist superschön.“

WEITERE INFORMATIONEN

Reportage: Frauke König, Wübben Stiftung Bildung
Fotos: Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
Kommune: Düsseldorf
Schule: Gemeinschaftsgrundschule Sonnenstrasse