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Gesetzlicher Auftrag oder geborene Verantwortungs­gemeinschaft? Gedanken zur Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule an Schulen im Brennpunkt

29.06.2022

von Michael John

Noch immer entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft über Bildungserfolg und Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen Die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule kann dazu beitragen, diese Disparitäten abzubauen. Beide Systeme bringen ihre eigenen Erfahrungen und Expertisen in Schule ein, so dass es sich eigentlich um eine geborene Verantwortungsgemeinschaft handelt Diese ist auch jetzt schon gesetzlich verankert und notwendiger denn je Gleichzeitig gibt es in der Realität immer wieder Schwierigkeiten, denn das Selbstverständnis von Schule und Jugendhilfe ist im Grundsatz unterschiedlich. Worin die Friktionen liegen und wie diese behoben werden können, soll im Folgenden mit einem besonderen Fokus auf die Situation in Nordrhein-Westfalen dargestellt werden.

Gesetzliche Grundlagen zur Kooperation zwischen Kinder-/Jugendhilfe und Schule

Zunächst ist festzustellen, dass es eine Reihe gesetzlicher Vorschriften gibt, die die Kooperation von Jugendhilfe und Schule in den Blick nehmen. Die Schulgesetzgebung ist Sache der Länder, für die Jugendhilfe sind die Kommunen verantwortlich, so auch in der Regel in ihrer Rolle als Schulträger für alle äußeren Schulangelegenheiten. Beim Ganztag beispielsweise prallen die Sichtweisen der Schulministerien mit den von den Trägern der Jugendhilfe in großer Freiheit verantworteten Konzepten für die Ganztagsangebote sowie den Notwendigkeiten des Ausbaus aufeinander. Und so gibt es in den gesetzlichen Ausgestaltungen und auch im tatsächlichen Tun Unterschiede in den einzelnen Ländern. Das Grundverständnis zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe ist aber in allen Ländern gleich. Grundlagen für die Kooperation finden sich, im Sozialgesetzbuch VIII, im Schulgesetz Nordrhein Westfalens, im Kinderbildungsgesetz NRW und verschiedenen Erlassen, wie z.B. dem Erlass zur Durchführung des Ganztages. Hier werden die Schnittmengen im Erziehungs, Bildungs und Betreuungsauftrag, bzw. im verbindlichen Kooperationsgebot und die Notwendigkeit bzw. Pflicht zum partnerschaftlichen Zusammenwirken mit Eltern beschrieben. Auf kommunaler Ebene spielt die integrierte Jugendhilfe und Schulentwicklungsplanung im Zusammenwirken zwischen allen Beteiligten eine wichtige Rolle.

Selbstverständnis und Unterschiede zwischen Schule und Jugendhilfe

Im ersten Paragraphen des Schulgesetztes in Nordrhein-Westfalen wird zwar ein ganzheitlicher Bildungs und Erziehungsauftrag formuliert, der die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Werthaltungen berücksichtigt.

„Schülerinnen und Schüler werden befähigt, verantwortlich am sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen und ihr eigenes Leben zu gestalten. Schülerinnen und Schüler werden in der Regel gemeinsam unterrichtet und erzogen.“
(§ 1 Abs. 4 SchulG NRW)

Der Blick der Jugendhilfe entdecktim Schulalltag aber stärker das Abarbeiten der Lehrpläne, die Unterrichtung der Fächer und am Ende die Bewertung der Leistung. Den Lehrkräften geht es darum, ganze Klassen zum Lernerfolg zu führen.

"Die Perspektive und Haltung der Kinder- und Jugendhilfe ist eine andere als die des Systems Schule und nur beide zusammen in gemeinsamder Verantwortung bilden ein starkes System."

Die Jugendhilfe hat einen stark individuellen Blick, der die Bedarfs und Bedürfnislagen der Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien berührt. Die Lehrkräfte sehen in den Angeboten der Jugendhilfe, wie z.B. im Ganztag, zwar eine sinnvolle Ergänzung aber eher im Sinne von additiven Angeboten, etwa für die soziale und emotionale Entwicklung, die Motorik, für Gewalt oder Suchtprävention, für die Ansprache und Arbeit mit Eltern. Diese Liste lässt sich fortführen. In zu vielen Fällen laufen diese Angebote aber parallel zum Unterricht und werden nicht miteinander abgestimmt. Schon begrifflich unterscheiden viele Schulen etwa, ob sie ein Ganztagsangebot / ein Familiengrundschulzentrum „haben“ oder „sind“. Hinzu kommen strukturelle Rahmenbedingungen. Die Lehrkräfte werden vom Land gestellt und entlohnt, sind sehr oft verbeamtet oder zumindest unbefristet eingestellt. Demgegenüber stehen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den meisten Fällen über freie Träger eingestellt und manchmal direkt bei Kommunen angestellt sind. Hier dominieren befristete Arbeitsverhältnisse mit unterschiedlichen Tarifstrukturen oder gar ohne tarifliche Einbindung.

Das heterogene Bild spiegelt sich auch in der landesseitigen Finanzierung der inneren Schulangelegenheiten wider, die auf befristete Projektfinanzierungen durch die kommunale Jugendhilfe – oft mit Unterstützung durch das dafür zuständige Kinder und Jugendministerium im Land – und einer an der finanziellen Situation einer Kommune ausgerichteten Finanzierung der äußeren Schulangelegenheiten trifft. Den mitunter klaren Vorgaben des Landes zur Schulstruktur, den Lernplänen, der Ausgestaltung von Unterricht und dessen Weiterentwicklung steht eine Vielfalt von individuellen Konzepten gegenüber, die in der Regel von freien Trägern der Jugendhilfe in eigener Verantwortung erarbeitet werden und die auf ihre Unabhängigkeit pochen. Die Freiheit auch die Experimentier-freudigkeit im Kinder und Jugendhilfebereich, der sich immer wieder auf sich verändernde Bedarfslagen einstellen muss, steht damit ein strukturell eher träges und beharrliches Schulsystem gegenüber, dass durch die Schulaufsicht begleitet aber auch kontrolliert wird und unter starker Beobachtung der Eltern funktionieren muss. Die meist fehlende strukturellen Einbindung von außerunterrichtlichen Angeboten wie auch der Schulsozialarbeit, sei an dieser Stelle
nur der Vollständigkeitshalber erwähnt.

„Kinder fühlen sich wohl, wenn sie sehen, dass ihre Eltern ihre Fortschritte wahrnehmen und Interesse daran zeigen.“

Gelingensbedingungen für eine gemeinsame Entwicklung von Schule

Kinder und Jugendhilfe bietet Schule eine Erweiterung des Bildungsverständnisses, und dies nicht nur im Sinne einer Angebotserweiterung für außerschulische Bildung. Schule ist weit mehr als ein Ort an dem zentrale Kulturtechniken vermitteln werden. Schule ist ein Lern und Lebensort! Die Perspektive und Haltung der Kinder und Jugendhilfe ist eine andere als die des Systems Schule und nur beide zusammen in gemeinsamer Verantwortung bilden ein starkes System, dass all den Herausforderungen gewachsen ist. Damit das gelingen kann, sollten folgende Aspekte berücksichtigt werden:

  • → alle an Schule Tätigen sind Teil eines Systems und
    werden als gleichwertiger Akteur wahrgenommen
    und eingebunden,

    → es gibt ein gemeinsames Verständnis von Erziehung
    und Bildung und dieses wird auch gelebt,

    → die unterschiedlichen Professionen arbeiten systema-
    tisch und nachhaltig zusammen,

    → Erziehungs- und Bildungspartnerschaften mit Familien
    werden von allen gemeinsam mit Leben gefüllt,

    → der Sozialraum mit all seinen Ressourcen wird genutzt,

    → es gibt eine kommunale Gesamtstrategie sowie eine
    abgestimmte Jugendhilfe- und Schulentwicklungs-
    planung,

    → Strukturen und Ressourcen sind nachhaltig gesichert.

Die Vision, die sich hinter all dem verbirgt, ist, dass Schulen sich weiterentwickeln zu Orten der Begegnung, der Vielfalt, der gegenseitigen Wertschätzung. Kinder, Jugendliche, Eltern erleben, dass dort nicht nur Lernen stattfindet, sondern individuelle Lebenswege entstehen, begleitet und gefördert werden. Das Mandat für einen gemeinsamen Erziehungs und Bildungsauftrag führt zu einer echten, zu einer geborenen Verantwortungsgemeinschaft, die die unterschiedlichen Potenziale und fachlichen Perspektiven aller nutzt, die in und an Schule arbeiten – im Sinne der Kinder und Familien.