EINBLICKE IN DIE PRAXIS

„In erster Linie muss eine Schulgemeinde Ja sagen.“

Die Einrichtung von Familienzentren an Grundschulen in Gelsenkirchen kann als ein Prozess beschrieben werden – und als ein großer Erfolg. In den letzten fünf Jahren kamen stetig mehr Schulen hinzu. Von den Machern verlangte dieser Prozess viel Geduld, Kommunikationsvermögen und eine klare Vision.

Was stimmt Sie zufrieden, wenn Sie auf das Projekt schauen?

Kleinau: Ich bin mit allem sehr einverstanden. Was mich wirklich zufrieden stimmt, ist der ganze Prozess, den wir in den letzten Jahren gemeinsam mit der Wübben Stiftung, den Schulen und eben mit uns gemeinsam gegangen sind. Und das, was wir alles gelernt haben, was wir entwickeln konnten und durften und, dass wir jetzt heute gemeinsam dort stehen, wo wir stehen, da bin ich ganz stolz drauf.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen, was sie gemeinsam gelernt haben und entwickeln konnten?

Kleinau: Ja, wir haben gelernt, dass es für einen solchen Kooperationsprozess mit sehr unterschiedlichen Partnern und Systemen wesentlich ist, dass die Akteure offen und bereit sind, den anderen zu verstehen. Nur wenn ich weiß, wie der andere tickt und warum, dann kann ich wertschätzend miteinander Entwicklungsprozesse gestalten. In diesem Zusammenhang haben wir auch gelernt, wie wichtig Klarheit und Rollenklärung für ein solches Projekt sind. Nicht zuletzt haben wir erlebt, wie sinnvoll und erfolgreich es ist, alle beteiligten Akteure von Anfang an mit einzubinden. Zu den Kick-Off-Veranstaltungen waren z. B. immer auch die Schulhausmeister, Schulsekretärinnen und natürlich Eltern eingeladen.

Stöbe-Blossey: Ich würde die Ergebnisse ebenfalls als positiv bewerten: Natürlich gibt es auch Konflikte, denn so ein Konzept fällt nicht vom Himmel. Es gab beispielsweise einzelne Lehrkräfte, die am Anfang sehr skeptisch waren, die gehofft hatten, da werden ihnen die schwierigen Fälle sozusa- gen aus dem Weg geräumt. So etwas realisiert sich natürlich nicht. Manche waren auch nicht davon überzeugt, dass so eine Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe wirklich sinnvoll wäre. Vieles musste sich schlicht und ergreifend einspielen. Alle mussten sich kennenlernen, zueinanderfinden. Wenn das durch die Kommune aktiv gefördert wird, ist das sinnvoll.

Was war das zentrale Ergebnis der Evaluation?

Stöbe-Blossey: Ein zentrales Ergebnis der Evaluation ist sicherlich, dass die Angebote des Familienzentrums bei Eltern und Kindern gut ankommen. Es gibt jedoch nicht ein Angebot für alle, sondern es muss genau hingeschaut werden, was für die Familien das jeweils Richtige ist – und das unterscheidet sich nicht nur zwischen den Standorten, sondern es gibt auch an jedem Standort unterschiedliche Bedarfe. Wir sehen, dass das ein anspruchsvolles Konzept ist, das gut vorbereitet und begleitet werden muss. Ohne eine Kommune, die der Schule Unterstützung bietet, wird das nicht umsetzbar sein. Aber wir haben den Eindruck, dass sich der Aufwand wirklich lohnt.

Wie profitieren die Familien und insbesondere die Kinder von diesem Projekt?

Kleinau: Im besten Falle tagtäglich. Kinder gehen täglich in die Schule, und Eltern bekommen durch diese Familien- zentren einen anderen Zugang zur Schule, werden vielleicht einfach noch anders eingefangen und viel niederschwelliger angesprochen. Sie müssen nicht durch die halbe Stadt fahren, um vielleicht ein Familienbildungsangebot annehmen zu können. Es gibt einfach ein umfassendes Paket vor Ort. Es gibt Ansprechpartner in der Nähe, die zu vielen Fragen Antworten geben können, und wenn sie die Antwort nicht haben, dann wissen sie, wer sie hat. Familien bekommen Informationen, Betreuung, Ansprache und werden gestärkt in ihrer Rolle als Bildungspartner für ihre Kinder in der Schule. Das können alle tagtäglich wahrnehmen.

Stöbe-Blossey: Kinder profitieren mit Sicherheit davon, wenn es ein gutes Verhältnis zwischen Eltern und Lehrkräften gibt, wenn sie sich beraten und gemeinsam überlegen können, was für das Kind das Beste ist. Häufig kennen Eltern ihr Kind gut, Lehrkräfte kennen das Bildungssystem besser, und wenn sie diese Kenntnisse zusammenzufügen, ist das sehr wertvoll. Da spielen ganz viele kleine Dinge eine Rolle: Wenn die Eltern einfach in die Schule geholt werden, dann ist die Schule für sie bald kein Ort mehr, an dem sie sich früher selber als Kind schon nicht richtig wohl gefühlt haben, den sie lieber von außen sehen. Wenn Eltern Schule durch das Familienzentrum und die verschiedenen Angebote als Ort erfahren, an dem sie sich mit anderen Menschen treffen und sich unterhalten können, wo sie vielleicht zuerst über ganz banale Sachen sprechen und dann auch mal über Probleme, dann hat das in jedem Fall einen positiven Effekt für die Kinder.

„Familien bekommen Informationen, Betreuung, Ansprache und werden gestärkt in ihrer Rolle als Bildungspartner für ihre Kinder in der Schule.“

Eva Kleinau

„Eine zentrale Gelingensbedingung besteht darin, dass ein solches Projekt nicht additiv als Zusatzaufgabe betrachtet, sondern in die Schulentwicklung integriert wird.“

Prof. Stöbe-Blossey

„Häufig kennen Eltern ihr Kind gut, Lehrer kennen das Bildungssystem besser, und wenn sie diese Kenntnisse zusammen- zufügen, ist das sehr wertvoll.“

Prof. Stöbe-Blossey

Würden Sie denn sagen, dass sich die Situation für die Kinder konkret verbessert? Konnten herkunftsbedingte Benachteiligungen vermindert werden?

Stöbe-Blossey: Man kann das sicherlich nicht mit harten Zahlen belegen, dafür müsste man den Bildungsweg von Kindern über zehn Jahre hinweg und länger verfolgen und müsste auch eine Gruppe, die im Familienzentrum war, mit einer Gruppe mit ähnlichen Startbedingungen vergleichen, die das eben nicht war. Mit harten Prozentzahlen können wir da sicher nicht arbeiten, aber wir haben in den Inter- views, die wir mit den Eltern geführt haben, zahlreiche Beispiele gefunden, wo Eltern von einer guten Unterstützung durch das Familienzentrum berichtet haben. Und wir haben den Eindruck, dass daraus viele Potenziale entnommen werden können. Und alleine die Tatsache, dass Eltern unbefangen in die Schule kommen und die Kommunikation mit der Schule suchen, diese wertschätzen und es viele infor- melle Gespräche gibt, stellt den eigentlichen Wert dar und stärkt die Vertrauensbasis.

Wenn Sie auf die Evaluationsergebnisse blicken. Gibt es etwas, das Sie so nicht erwartet hätten? Was Sie positiv oder negativ überrascht hat?

Kleinau: Überrascht nicht, aber die Evaluation hat noch einmal bestätigt, dass es ganz wesentlich ist, wie Jugendhilfe und Schule in diesem Projekt zusammen agieren. Dass das Zusammenspiel sehr deutlich und geklärt sein muss. Das Projekt darf nicht im luftleeren Raum schweben und leben. Es braucht eine Steuerung, eine Koordinierung, es braucht eine Leitung vor Ort und das wurde noch einmal sehr deutlich.
Dieses Ergebnis fand ich sehr wichtig für die Zukunft.

Was war neu in dem Verhältnis zwischen der Jugendhilfe (Kommune) und der Schulaufsicht und der Schulen (Land)?

Kleinau: Die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule ist eine Aufgabe, die in NRW sowohl für die Schulen als auch für die Jugendhilfe gesetzlich verankert ist. Es geht vorrangig um die Zusammenarbeit zweier sehr verschiedener Systeme und um die Schaffung von tragfähigen Strukturen. Soweit die Theorie. In Gelsenkirchen gab und gibt es schon immer eine gute und enge Zusammenarbeit mit der Unteren Schulaufsichtsbehörde. Es gibt eine Vielzahl von Schnittmen- gen, in denen gemeinsames Agieren wichtig ist, wie z. B. bei Themen wie Zuwanderung, Inklusion, Schulsozialarbeit etc. Im Rahmen des Entwicklungsprozesses der Familienzentren an Grundschulen hat die Kooperation nochmal eine andere Qualität erhalten, das Projekt hat uns zusammengeschweißt.

„Das Projekt darf nicht im luftleeren Raum schweben und leben. Es braucht eine Steuerung, eine Koordinierung, es braucht eine Leitung vor Ort.“

Eva Kleinau

Diese Erfahrungen und Erkenntnisse aus diesem gemeinsamen Prozess waren neu für uns und werden sicherlich dazu führen, dass weitere Projekte an der Schnittstelle gut initiiert werden können.

Zusammengefasst: Wo sehen Sie das große Potenzial der Familienzentren an Grundschulen und was bedeutet so ein Projekt für die Entwicklung von Schule?

Stöbe-Blossey: Vor allem in der Vertrauensbildung und in der Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule, in der Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Schule und Sozialraum und in der Zusammenarbeit unterschied- licher Professionen in der Schule. Für Schulen in heraus- fordernden Lagen bietet ein solches Projekt Entwicklungs- chancen: Sie können die Ressourcen des Sozialraums und die Kooperation mit der Jugendhilfe nutzen, um Kinder und Familien ganzheitlich zu begleiten und damit die Bildungs- chancen für Kinder zu verbessern. Gleichzeitig können sie so Teil einer Präventionskette werden, der Familien mit Kindern im Grundschulalter eine niederschwellige Unterstützung in ihrem Quartier ermöglicht. Eine zentrale Gelingensbedin- gung besteht darin, dass ein solches Projekt nicht additiv als Zusatzaufgabe betrachtet, sondern in die Schulentwicklung integriert wird.

Würden Sie es in erster Linie als Projekt für Problembezirke begreifen oder definieren Sie einen übergreifenden Rahmen?

Kleinau: Zu Beginn war es die Maßgabe zu sagen: Wir gehen in die Bereiche der Stadt, in denen es besonders schwierig ist. Davon sind wir aber etwas weggerückt, weil wir eben im Rahmen des Prozesses und in der Entwicklung festgestellt haben, dass es so wesentlich ist, ob eine Schulgemeinde mitmachen möchte. Die Einstellung ist ganz wichtig für das Gelingen des Projekts. Wir versuchen das Familienzentrum natürlich zu öffnen, damit möglichst viele partizipieren können, aber in erster Linie muss eine Schulgemeinde Ja sagen.

Es geht jetzt weiter, die Stadt Gelsenkirchen führt das Projekt fort, nachdem die Wübben Stiftung vereinbarungsgemäß zum Jahresende ihr Engagement abgeschlossen hat. War das ein Prozess langer Diskussion in der Stadt Gelsenkirchen oder war es gleich klar?

Kleinau: Es war keine lange Diskussion in meiner Wahrneh- mung. Ich habe das Gefühl, es war relativ schnell klar, dass sich die Stadt dazu entscheidet – das stimmt uns natürlich alle sehr freudig! Ich denke, das ist eben ein Ergebnis dieses ganzen Prozesses: Wir haben alle gemeinsam diese Arbeit für die Familien und Kinder gemacht, wir waren erfolgreich, unser Engagement wurde aber auch gesehen. Darin liegt natürlich immer die Hoffnung, Eltern frühzeitig zu erreichen und mitzunehmen, damit sie eben nicht durchs Netz fallen.

Natürlich ist das auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Schule ein perfektes Projekt.

Stöbe-Blossey: Das ist auf jeden Fall ein großer Erfolg! Wir müssen ja auch sehen, dass Gelsenkirchen keine Stadt ist, die besonders leichte Bedingungen hat, die so ein Projekt mal eben aus der Portokasse finanzieren kann. Das heißt: Da steckt eine politische Prioritätensetzung hinter. Gelsenkirchen möchte in die Stadt, die Kinder und letztlich in die Zukunft der Familien investieren. Insofern ist es eine sehr gute Sache, dass Gelsenkirchen diese Herausforderung annimmt und mit diesem Konzept weiterarbeitet.

Was wäre ohne die Fördergelder der Wübben Stiftung nicht möglich gewesen? Hätte es dann ein so groß angelegtes Projekt überhaupt geben können?

Kleinau: Nein, ich glaube nicht, dass die Gelder so dagewesen wären. Neben den finanziellen Mitteln war die Entwicklungs- partnerschaft mit der Wübben Stiftung der wesentliche Gewinn für die positive Entwicklung des Projekts. Durch die Wübben Stiftung haben wir Zeit und Vertrauen bekommen, es gab eine Fehlerkultur, wir konnten gemeinsam diskutieren, uns reiben und uns immer wieder verständigen. Es gab einfache eine echte Partnerschaft und das hat zu dem Erfolg wesentlich beigetragen. Sonst stünden wir heute nicht dort, wo wir eben mit diesem Projekt stehen.

WEITERE INFORMATIONEN

Interview: Simone Wans, Freie Journalistin
Foto: © Martin Magunia & Simone Wans
Kommune: Gelsenkirchen
Website: Familiengrundschulzentren in Gelsenkirchen