EINBLICKE IN DIE PRAXIS

„Wenn die Kinder sehen, dass auch die Eltern in die Schule gehen, gibt ihnen das Sicherheit.“

Familienzentren verbinden Familien mit der Grundschule und dem ganzen Viertel und machen Eltern zu echten Bildungspartnern ihrer Kinder. Wie die Stadt Gelsenkirchen ein neues Konzept aus­ probiert und zum landesweiten Vorreiter wird.

Hadils Augen leuchten, sie kniet auf einem Stuhl und konzentriert sich auf das Memory-Spiel. Ganz vertieft ist sie und jubelt laut auf, wenn sie die passenden Karten aufdeckt. Hadil ist neun Jahre alt und geht in die dritte Klasse. 2015 kam sie mit ihrer Familie aus Aleppo. Als sie eingeschult wurde, sprach sie kein Wort Deutsch, jetzt beherrscht das Mädchen die Sprache fließend.

Mit ihrer Mutter Fatima kommt sie regelmäßig zum offenen Spielenachmittag in ihrer Schule, der Gemeinschaftsgrund- schule Haverkamp. Zusammen mit der achtjährigen Sophie und einer Lehrerin sitzen sie am Tischende und naschen von den Plätzchen, die für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereitstehen. Neben Sophie, ihrer Mutter und Schwester ist heute noch eine weitere Mutter mit ihrer Tochter da. Sie alle genießen es, im gemütlichen Rahmen die verschiedenen Spiele auszuprobieren. Im Familienzentrum gibt es Angebote, die für alle offen sind. Manche können Eltern gemeinsam mit ihren Kindern, andere alleine wahrnehmen. „Eltern, Schüler und Lehrer erleben sich in einem anderen Kontext, es entstehen echte Beziehungen. Eltern werden so zu guten Bildungsbegleitern ihrer Kinder,“ sagt Neriman Aksoy. Sie leitet das Familienzentrum Haverkamp  und  ist  zudem bei der Stadt Gelsenkirchen für die Gesamtkoordination der sechs Familienzentren an Grundschulen zuständig.

ENGAGEMENT, ENTHUSIASMUS UND WERTSCHÄTZUNG

Wer an den Grundschulen und Familienzentren unterwegs ist, merkt schnell, mit wie viel Enthusiasmus die Verant- wortlichen bei der Sache sind. Sie haben diese Energie, die gleich zu spüren ist, wenn Menschen sich mit Herzblut einer Aufgabe widmen. Ihnen geht es um die Familien, die Kinder, deren Entwicklung ist ihnen ein echtes Anliegen. Schließlich ist Gelsenkirchen kein unproblematisches Pflaster, die Stadt kämpft mit vielen Herausforderungen. Einfacher wäre es, neue Dinge erst gar nicht zu probieren, denn es gibt immer genug Gründe, die dagegen sprechen würden. So leben beispielsweise im Stadtteil Bismarck, wo die Gemeinschafts- grundschule Haverkamp verortet ist, viele Menschen mit einer anderen Herkunftssprache. Die Arbeitslosigkeit ist verhältnismäßig hoch. Der Bezirk ist vom Steinkohlenbergbau geprägt, ursprünglich arbeiteten viele Menschen hier in der nahegelegenen Zeche Consolidation. Nach deren Schließung in den 90er Jahren stieg die Arbeitslosigkeit stark und blieb auf hohem Niveau. 47 Prozent der Kinder an der Gemein- schaftsgrundschule sprechen Deutsch als Zweitsprache und Türkisch als Muttersprache, sie kommen mittlerweile aber auch aus Rumänien, Bulgarien, Syrien und Afghanistan.

Viele Jahre haben nicht wenige deutsche Familien ihre Kinder lieber auf eine katholische oder evangelische Grund- schule in einem anderen Viertel geschickt, die Fahrtzeit nahmen sie in Kauf. Doch das ändert sich jetzt, was sicher- lich mit dem vielfältigen Engagement der Schule zusam- menhängt: Das Gebäude wurde kernsaniert und erweitert, Sozialziele wurden für das Miteinander definiert, wodurch die Gewalt auf dem Schulhof mittlerweile kein Thema mehr ist, Spielplätze in der Umgebung renoviert, auch unter Mithilfe der Schulkinder und des Fördervereins, und schließlich wurde das Familienzentrum eingerichtet. „Damit schließt sich der Kreis ganz toll. Mittlerweile sind wir in den neuen Jahrgängen sogar wieder zweizügig“, hält Schulleiterin Eva Müller-Bürgel begeistert fest.

Neriman Aksoy, Jutta Stempel und Meriam Attalauziti (v.l.n.r.)

„Eltern, Schüler und Lehrer erleben sich in einem anderen Kontext, es entstehen echte Beziehungen.“

Neriman Aksoy, Leiterin Familienzentrum Haverkamp

AKTEURE UND ANFÄNGE IM SCHULENTWICKLUNGSPROZESS

Die Koordination der Projekte mit allen Beteiligten gestaltete sich zu Beginn nicht immer einfach. Schulleiter, Lehrer, OGS-Leitungskräfte, die städtische Jugendhilfe, Vertreter der Wübben Stiftung – alle sitzen sie an einem Tisch. So visionär der Ansatz, so groß sind mitunter die Tücken beim Aufsetzen eines solch anspruchsvollen Projekts. Dem Ganzen eine Richtung geben, verhandeln, die verschiedenen Stimmen moderieren, Lösungen finden, Neriman Aksoy fühlte sich anfangs überfordert. Beinahe hätte sie hingeworfen. „Aber es hat nicht lange gedauert und da wurde das Projekt zu meinem Ding. Ich hatte verstanden, was es für jedes ein- zelne Kind und dessen Zukunft bedeutet.“ Alle gemeinsam krempelten sie die Ärmel hoch und legten los. Ganz ohne Reibungen, Diskussionen, Konflikte ging das natürlich nicht ab. Aber das Projekt entwickelte sich, sechs Schulen machen heute mit. Mit niederschwelligen Angeboten sollen die Familien der Schulen und der Viertel erreicht werden, um den Kontakt auch untereinander zu verbessern. Nähkurse für Eltern gibt es, Vater-Kind-Nachmittage, international Kochen, Drachen und Vogelfutterringe basteln, Stressabbau durch Yoga für Kinder. Aber auch verschiedene Seminare für Eltern zu Erziehungsfragen, Deutschkurse, Beratungsangebote für den Übergang zur weiterführenden Schule.

„Die Eltern kommen nicht nur zur Schule, um ein Zeugnis zu unterschreiben oder sich anzuhören, wie die Leistungen ihrer Kinder sind, sondern weil sie Schönes erleben. Das hilft, Nähe aufzubauen.“

Jutta Stempel, Schulleiterin der Josefringsschule

SOZIALER KNOTENPUNKT IM QUARTIER

Meriam Attalauziti leitet das Familienzentrum an der Josef- Rings-Schule, einer Gemeinschaftsgrundschule in Gelsenkir- chen Hassel. Hier wurde das Familienzentrum erst spät, im Juni 2018, mit Angeboten ganz nah an den Bedürfnissen der Familien aufgesetzt. „Die Teilnehmerzahlen sind konstant gestiegen. Der Spieletreff und der Basteltreff werden immer sehr gut besucht. Bei ‚Sport für die ganze Familie‘ waren sogar 50 Personen. Mittlerweile wissen wir, was bei den Familien gut ankommt“, verrät Meriam Attalauziti. Sie ist im Stadtviertel vernetzt, verbindet die verschiedenen Akteure, sodass sie Eltern bei ihren unterschiedlichen Fragen überdies schnell auf Angebote hinweisen kann, die nicht originär im Familienzentrum, sondern von anderen Trägern im Viertel angeboten werden. Das Familienzentrum als Netz- werkknoten. Vom Schwimmkurs bis zur Schuldnerberatung ist das Angebot vielfältig. So können die Eltern jetzt ganz leicht erfahren, wo sie Hilfe finden. Meriam Attalauziti geht zu den Stadteilgesprächen, besucht die Familienzentren an Kindergärten und auch die Kindertagesstätten ohne Familienzentren.

Die 30-Jährige ist in Essen geboren und aufgewachsen. Beide Eltern stammen aus Marokko. Meriam Attalauziti macht momentan ihren Master in Sozialer Arbeit an der Universität Duisburg-Essen. Rückblickend hätte sie sich eine solche Unterstützung durch ein Familienzentrum gewünscht. „Vor allem, wenn es darum geht, eigene Potenziale zu entdecken und sich als Kind schulisch zu entfalten.“ Ihre Entwicklung wäre vielleicht nicht anders verlaufen, aber ihre Bildungs- biografie hätte es wahrscheinlich verkürzt. „Ich besuchte damals die Hauptschule. Ich denke, das verstärkt ein wenig mein Feingefühl für die Chancen- und Bildungsgerechtigkeit der Kinder.“

Neriman Aksoy bewertet ebenfalls Vieles vor dem eigenen Erfahrungshorizont. Die Tochter türkischer Eltern wurde in Deutschland geboren und hat nur die Kita hier besucht. Als erstgeborenes Kind wurde sie damals zu den Großeltern in die Türkei geschickt und wuchs dort auf. Das war ganz typisch, schließlich wollten auch die Eltern irgendwann zurück. Aber es kam anders, die Eltern blieben und Neriman Aksoy zog mit 16 Jahren und einer bestandenen Zulassungs- prüfung für die Uni wieder nach Deutschland. Sie ist über- zeugt davon, dass ihre Eltern sich bei der Schulwahl ihrer Geschwister anders verhalten hätten, wenn sie mehr über das Schulsystem gewusst hätten. „Niemand hatte einen Blick dafür, was die Stärken der Kinder waren und welche Ange- bote die einzelnen Schulen bereithielten. Ich glaube, meine Eltern haben darüber gar nichts gewusst“, so Neriman Aksoy.

NÄHE DURCH NIEDRIGSCHWELLIGE ANGEBOTE

Auch Hassel, dort wo die Josef-Rings-Schule liegt, ist ein Stadtteil mit viel „Erneuerungsbedarf“, wie es heißt. Auch hier leben viele Familien mit Migrationshintergrund, mit einer traditionell starken, türkischen Community. Seit wenigen Jahren kommen jetzt auch andere Nationalitäten hinzu: Syrer, Kurden, Osteuropäer, Russen sowie Menschen aus Tunesien oder den Balkanländern. Es wird bunter rund um die Schule, mit allen Herausforderungen. „Da kann das Familienzentrum verbinden“, beobachtet Schulleiterin Jutta Stempel. Seit vielen Jahren hat sie bereits eine solche Idee im Kopf. „Aber es wurde immer gesagt, mein Wunsch sei eine Utopie.“ Bis zum Sommer 2018, als das Familienzentrum schließlich Realität und ein Erfolg wurde. „Die Eltern kommen nicht nur zur Schule, um ein Zeugnis zu unterschreiben oder sich anzuhören, wie die Leistungen ihrer Kinder sind, sondern weil sie Schönes erleben. Das hilft, Nähe aufzubauen. Und die brauchen wir.“

Die Eltern erreichen sie durch die Angebote und Gespräche – ganz viele Gespräche. Sie fühlen sich wohl und geben ihre Erfahrungen weiter, dadurch kommen wieder neue Eltern. Die Bindungen, die entstehen, sind für die Kinder immens wichtig. Wenn es beispielsweise später um eine Beratung zur Schulwahl geht, vertrauen die Familien den Lehrern und Mitarbeitern des Familienzentrums. Und auch die Kinder sind stolz, wenn die Eltern in die Schule gehen. „Ich kann mich hier frei äußern und um Hilfe bitten“, beschreibt Schulleiterin Stempel das gegenseitige Vertrauen.

Im Schuljahr 2014/2015 startete das erste Familienzentrum an einer Gemeinschaftsgrundschule in Gelsenkirchen, finanziert aus kommunalen Mitteln. Bis dahin gab es vergleichbare Konzepte nur für Kindergärten. Im Rahmen einer Entwicklungspartnerschaft mit der Wübben Stiftung konnten von Mai 2015 bis Dezember 2019 fünf weitere Familienzentren an Grundschulen in Gelsenkirchen aufgebaut, erprobt und weiterentwickelt werden.

Der Schwerpunkt liegt dabei immer darauf, die Bildungschancen von sozioökonomisch benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Gelsenkirchen ist die landesweit erste Kommune, die das Konzept Familienzentren an Grundschulen erprobt hat. Die Angebote sind bewusst niederschwellig und abwechslungsreich, um viele verschiedene Familien zu erreichen.

www.gelsenkirchen.de/familienzentren-grundschulen

Ein schönes Beispiel in dem Zusammenhang ist der ehemals verwilderte Schulgarten an der Josef-Rings-Schule, den die Eltern auf Vordermann gebracht haben. Die Mütter haben sich um die Hochbeete gekümmert, die Väter ganze Tonnen Kies und Mulch bewegt und sich durch mannshohes Unkraut gekämpft. Paprika pflanzten sie beispielsweise und Kiwis. Zur Belohnung gab es einen Grillabend, und sie hätten sich gefühlt, wie in einer großen Familie, erinnert sich Meriam Attalauziti.

Auch im Haverkamp werden die Macher des Familien- zentrums nicht müde, sich neue Ideen für Kursangebote zu überlegen. Beispielsweise machten Ende des Jahres die Väter mit ihren Kindern einen Ausflug zum Bauernhof, und für das erste Halbjahr 2020 ist ein Workshop mit dem Ziel geplant, den Kindern zu helfen, ihren öffentlichen Auftritt zu verbessern. Etwa bei Vorstellungsgesprächen an weiterführenden Schulen oder, um sich in der Mensa oder im ÖPNV angemessen zu verhalten. „Wenn die Kinder sehen, dass auch die Eltern in die Schule gehen, gibt ihnen das Sicherheit, dass die Schule wichtig ist. Schule wird als sicherer Raum empfunden“, sagt Schulleiterin Eva Müller-Bürgel. „Das kommt positiv in die Schule zurück.“

ES GEHT WEITER

Als nun die Nachricht kam, dass es mit den Familienzentren weitergeht, ist die Freude groß. Denn die Stadt Gelsenkirchen führt die Angebote zukünftig fort, wenn sich die Wübben Stiftung aus der Förderung zurückzieht. Für alle Beteiligten ist das ein wichtiges Signal zum Wohle der Kinder. Die neun- jährige Hadil ist dafür das beste Beispiel: Sie kommt gut im Unterricht mit und wird die Grundschulzeit, wenn alles so weitergeht, erfolgreich durchlaufen. Und nebenbei kann sie gemeinsam mit ihrer Mutter noch einige Spiele entdecken, die sie zu Hause nicht hat, und Freunde finden.

WEITERE INFORMATIONEN

Interview: Simone Wans, Freie Journalistin
Foto: © Martin Magunia & Simone Wans
Kommune: Gelsenkirchen
Website: Familiengrundschulzentren in Gelsenkirchen